Völlig verrückt!

Es gibt so Leute, die schauen Anderen beim Computerspielen zu…

eine Kollegin

Fassungslos erzählte mir eine Kollegin davon, dass ihr Sohn ja dauernd im Internet so Filme oder sowas schaut. Stundenlang sitzt er da und – man stelle sich vor – er guckt einer anderen Person beim Spielen irgendwelcher Computerspiele zu. Das ist ja total verrückt, er guckt anderen BEIM SPIELEN zu. Nicht mal mehr selber spielen kann er…

Ich habe das in dem Moment tatsächlich ein wenig ratlos und schulterzuckend zur Kenntnis genommen und weitestgehend unkommentiert gelassen. Zum Einen war ich in dem Moment nicht in der Verfassung, darüber gelassen zu sprechen und zum Anderen meldete sich sofort bei mir die alte innere Stimme, die mir bereits seit vielen Jahren sagte: „Du zockst immer viel zu lang! Kannst du nicht mal was Sinnvolles machen? Das hat doch alles keinen Wert! Erzähl das bloß keinem, wahrscheinlich bist du sowieso schon zocksüchtig. Normal ist das auf jeden Fall nicht!!!“

Als ich meinem Mann abends davon erzählte, auch wie skuril ich diese Situation (und das, was währenddessen in meinem Kopf vor sich ging) fand, meinte er nur trocken: „Komisch, wenn alle Welt 22 schwitzenden Männern dabei zuguckt, wie sie 90 Minuten lang versuchen einen Ball in eines von zwei Toren zu bekommen, wundert sich keiner. Dabei könnten die auch alle selber Fußball spielen.“

Ich musste laut auflachen und mir wurde klar, wie recht er hat. Man muss sich einfach immer wieder vor Augen führen, dass es anderen Leuten eigentlich völlig egal sein kann, womit man seine Freizeit verbrennt. Das können die andern so komisch finden wie sie wollen. Letztendlich geht es mich nichts an, was sie über mich denken und es sollte mir auch egal sein. Ich verurteile Leute, die sich Fußballspiele (oder sonst was) im Fernsehen anschauen auch nicht, weil sie nichts Sinnvolleres mit ihrer Zeit anfangen. Steht mir auch gar nicht zu. Solange sie mich damit nicht belästigen, dürfen sie damit glücklich werden.

Warum fällt es mir so schwer?

Seit ich Zugang zu einem PC habe, spiele ich für mein Leben gerne Computerspiele. Davor (und natürlich auch danach) habe ich viel Gesellschaftsspiele gespielt und überhaupt war das Spielen immer sehr wichtig! Und es gab und gibt Zeiten, in denen ich mich in Computerspielen verkrieche. Eskapismus nennt man das wohl. Realitätsflucht. Und genau das ist es. Das kann ich übrigens genauso gut mit einem Buch, einem Film oder einer Serie. Abtauchen in eine andere Welt, die Realität vergessen oder ausblenden. Ich finde das wichtig, damit man davon einmal Abstand gewinnt und nicht völlig am Rad dreht. Denn die Realität ist oftmals nicht wirklich auszuhalten, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt.

Aber zurück zu meinem Problem damit. Im Laufe meiner Therapie kamen wir natürlich auf das Thema Spielen und auch die Flucht ins Spielen. Letztendlich kamen wir zu dem Schluss, dass keine Sucht vorliegt, da ich mein Leben noch grundsätzlich auf die Reihe bekomme. Mein Problem bestand eher darin, dass ich tief im Inneren mir selbst Vorwürfe machte, dass ich meine Zeit sinnlos vergeude. Und auch wenn ich diese Stimme für einige Zeit ausblenden konnte, so kam sie mit voller Wucht zurück und verursachte in mir ein derartig schlechtes Gewissen, dass ich nun SCHON WIEDER nichts Sinnvolles mit meiner kostbaren Lebenszeit angefangen habe, dass ich die letzten Stunden spielen nicht als Erholung sondern als Belastung und Enttäuschung empfand. Und das war letztendlich auch der Grund, warum ich quasi nie darüber sprach, dass das eins meiner Hobbies ist. Ich hatte und habe immer noch zwei unterschiedliche Arten von Freunden. Die eine Gruppe weiß das einfach nicht von mir und würde das (wahrscheinlich) auch nicht verstehen.

Was würde denn passieren, wenn Sie offen kommunizieren würden, dass Sie Computerspiele spielen?

Therapeutin

Ja, was eigentlich?!

  • Mein Gegenüber würde das nicht verstehen? („Ja und? Muss er das? Können Sie es nicht vielleicht erklären?“)
  • Mein Gegenüber könnte denken, ich wäre süchtig. („Ja und? Sie wissen es doch besser. Was kümmert Sie das?“)
  • Mein Gegenüber würde mich meiden. („Ja und? Möchten Sie gerne engen Kontakt mit so einer Person pflegen?“)
  • diverse weitere Alternativen kommen einem da noch in den Sinn, aber letztendlich bleibt immer wieder die Frage nach dem Realitätscheck übrig: Und wie schlimm wäre das wirklich?

Und die Antwort lautet: „Nicht schlimm.“ Es passiert mir nichts, wenn ich offen damit umgehe. Ja, es gibt evtl. Konfrontationen, weil jemand das komisch findet. Doch für mich ist das nur eine weitere Gelassenheitsübung. Dann findet er das eben komisch. Es geht mich nichts an, was er findet, er kann das so finden.

Aufgabe zum nächsten Termin

Kommunizieren Sie offen bei sich bietenden Gelegenheiten, dass eines ihrer Hobbies Computerspiele sind.

Therapeutin

Und als ich so nach Hause fuhr, wusste ich, dass ich etwas ausprobieren wollte, was ich immer schon irgendwie witzig fand: Ich wollte nicht nur darüber reden, ich wollte es sogar streamen. Ich hab schon oft selbst Let’s Plays oder Streams geschaut. Entweder, weil ich den Streamer und das Spiel einfach mochte oder weil ich das Spiel selbst nicht spielen konnte (PC zu alt, Spiel zu gruselig, Tipps abstauben, etc.). Ich habe mich also kurzerhand schlau gemacht, was ich dazu alles brauche und, schwuppdiwupp, hatte ich einen Kanal eingerichtet.

Und heute?

Nach über zwei Jahren streame ich immer noch und es macht wirklich Spaß! Ich habe viele Menschen kennengelernt, die ich zwar noch nicht unbedingt persönlich getroffen habe, aber mit denen ich viele lustige Abende verbracht habe. Mit vielen spiele ich inzwischen zusammen, einige sind zu Freunden geworden und wir besuchen uns gegenseitig. Einige warten regelrecht darauf, dass mal wieder „Streamtag“ ist und freuen sich, meine Stimme zu hören. Und eines weiß ich inzwischen ganz genau, Streamen ist alles mögliche, aber für meine Community und mich ganz bestimmt nicht sinnlos.